Der Pilatus-Check

Schon der römische Statthalter wollte wissen: Was ist Wahrheit?

Was ist Wahrheit?

„Was ist Wahrheit?“, wollte der römische Statthalter Pontius Pilatus im Prozess gegen Jesus wissen. Sein Satz hallt durch die Geschichte. Bis heute ist die Frage brennend aktuell. Wahrheit: Gibt es das überhaupt? Ist nicht alles relativ? Welche Folgen hat es, wenn die Objektivität von Wahrheit keine Rolle mehr spielt? Und warum bleiben ohne Wahrheit Toleranz und Menschenwürde auf der Strecke? Martin Rothweiler, Programmdirektor von EWTN-TV, ist diesen Fragen nachgegangen.

Wer die Frage hört „Was ist Wahrheit?“ und noch christlich sozialisiert ist, denkt unweigerlich an den Statthalter Pilatus. Es war eine Reaktion auf die Aussage Jesu: „Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege.“ Ob die Frage von Pilatus spöttisch-skeptisch oder ernst gemeint war, kann man wohl nicht mit Gewissheit sagen. Wie auch immer, die Frage ist – wie zu allen Zeiten – auch heute von höchster Relevanz.

Gehen wir also der Frage nach: Was bedeutet es, wenn wir sagen, etwas sei wahr. Eine klassische Antwort finden wir bei Thomas von Aquin: „Veritas est adaequatio rei et intellectus.“ Die Wahrheit ist die Übereinstimmung von Sein und Denken, zwischen dem Gedachten, dem Gesagten und einem Sachverhalt. Dass wir irgendeinen Gegenstand oder ein Ereignis, geschweige denn eine andere Person – und sei es der Ehepartner – niemals zur Gänze erfassen können, versteht sich von selbst. Die Forschung und das Leben selbst zeigen, dass wir dabei niemals an ein Ende kommen. Dass wir nicht einmal ein Sandkorn vollständig begreifen können, bedeutet im Umkehrschluss indes nicht, dass wir Menschen nicht zu wahrer Erkenntnis fähig seien, alles Erkennen nur subjektiv sei und es mithin keine objektive Wahrheit gebe. Dieser Fehlschluss, alles sei nur relativ, ist in unserer Gesellschaft aber zu einem Gemeinplatz geworden und bestimmt weitgehend das Denken und Reden. Der Selbstwiderspruch einer solchen Haltung ist offenbar, wie Thomas von Aquin mit einer einfachen logischen Überlegung nachweist: „Wer leugnet, dass es Wahrheit gibt, gibt damit zu, dass es Wahrheit gibt. Wenn nämlich Wahrheit nicht ist, wäre es wahr, dass Wahrheit nicht ist. Ist aber etwas wahr, dann muss Wahrheit als solche existieren.“

Wahrheit ist absolut

Wahrheit ist im recht verstandenen Sinne immer absolut. Dies gilt nicht nur für Grundwahrheiten, wie etwa, dass jeder Mensch ein Recht auf Leben und Gewissensfreiheit hat, oder wie dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch, dass nicht ein und dieselbe Sache in derselben Hinsicht wahr und unwahr sein kann. Vielmehr trifft der Absolutheitscharakter der Wahrheit auch für konkrete geschichtliche Ereignisse zu, sofern sie zutreffend geschildert sind. Absolutheit bedeutet in diesem Kontext, dass Sachverhalte für jeden grundsätzlich erkennbar sind und losgelöst davon gelten, ob sie jemand de facto erkennt oder sie ablehnt.

Bemerkenswerterweise ist bei allem sonstigen Relativismus in unserer Gesellschaft das geschichtliche Faktum des Holocaust mit einer derart absoluten Gewissheit historisch wahr, dass der Bundesgerichtshof 1994 entschied, dass dessen Leugnung nicht durch die Meinungsfreiheit gedeckt sei. Wer öffentlich den Holocaust leugne, der störe den öffentlichen Frieden und könne mit einer Haft von bis zu fünf Jahren oder einer Geldbuße bestraft werden. Allein deshalb müsste ein konsequenter Relativist schon aufmerken, weil er letztlich zu einem Zweifler am Geschehen des Holocaust wird. Eigenartigerweise scheint unsere Gesellschaft in diesem Selbstwiderspruch von Relativismus und selektivem „Wahrheitsgebot“ zu leben.

Toleranz setzt Wahrheit voraus

Ein konsequent gelebter Relativismus würde im Übrigen schon das Alltagsleben verunmöglichen. Oder würde ich mir beim morgendlichen Frühstück ernsthaft die Frage stellen, ob der Kaffee, den ich trinke, tatsächlich existiert oder nicht? Würde das Müsli, das ich mir gerade zubereitet habe, auch noch dort sein, wenn ich gerade den Raum verlasse und es aktuell nicht sehe beziehungsweise erkenne? Diese Beispiele mögen platt klingen, aber machen doch klar, wie essentiell und latent die Wahrheitsfähigkeit des Menschen für sein Leben, ja schlichtes Überleben ist.

Worin gründet aber dieser gelebte Selbstwiderspruch zwischen der im Alltagsleben permanent praktizierten und erlebten Wahrheitsfähigkeit des Menschen oder beispielsweise der Verpflichtung, vor Gericht die Wahrheit zu sagen, sowie besonderen „Wahrheitsgeboten“ wie dem Verbot der Leugnung des Holocaust einerseits und dem latenten, kulturprägenden Relativismus andererseits?

Es gibt verschiedene Gründe. Der Wunsch von Menschen nach absoluter Autonomie, nach vollkommener Selbstbestimmung bis hin zur Befreiung von der eigenen Natur, die sich durch jegliche Wahrheit eingeschränkt fühlt, gehört dazu. Prägend scheint vor allem die „relativistische Rechtfertigung der Demokratie“ zu sein, die der Rechtswissenschaftler Hans Kelsen im 20. Jahrhundert entwickelt und das Denken auf dem Gebiet der politischen Wissenschaft bis heute geprägt hat. Der Verzicht auf jedweden Wahrheitsanspruch sei die Voraussetzung für Toleranz und Demokratie. Genau das Gegenteil ist aber der Fall. Echte Toleranz setzt Wahrheit voraus. Man denke allein an die Anerkennung der absoluten Menschenwürde der anderen Person als unumstößliche Wahrheit. Wenn ich diese Wahrheit relativiere, tritt das Gesetz der Mehrheit und die Macht des Stärkeren an deren Stelle. Vor dieser Diktatur des Relativismus hat Papst Benedikt XVI. immer wieder gewarnt.

Ohne Wahrheit keine Menschenrechte

Der Philosoph Jacques Maritain, der unter anderem französischer Botschafter im Vatikan war und am Text der UN-Menschenrechtscharta von 1948 mitwirkte, stellt in seinem 1960 in deutscher Sprache erschienenen Werk „Wahrheit und Toleranz“ fest: „Man trifft nicht selten Menschen, die der Ansicht sind: an keinerlei Wahrheit zu glauben (…), sei eine Grundbedingung, die um der gegenseitigen Toleranz und des friedvollen Zusammenlebens willen von demokratischen Bürgern zu erfüllen sei. Ich darf wohl sagen, dass diese Leute in Wahrheit die intolerantesten sind; denn, wenn sie zufällig an etwas unumstößlich Wahres zu glauben hätten, würden sie sich im selben Augenblick gezwungen fühlen, den eigenen Glauben ihren Mitbürgern mit Gewalt und Zwang aufzudrängen. Sich selbst von der Wahrheit auszuschließen, ist das einzige Mittel, dass sie gefunden haben, um von ihrer bleibenden Tendenz zum Fanatismus loszukommen. Das ist eine selbstmörderische Methode. Und es ist ein selbstmörderischer Begriff von Demokratie.“

Keine demokratische Gesellschaft kann auf Dauer ohne den Glauben an Wahrheiten wie Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenwürde leben. Unveräußerliche Menschenrechte wie das Recht auf Leben werden immer mehr veräußert und der Demokratie damit der Boden entzogen, der die unabdingbare Voraussetzung für eine menschenwürdige Gesellschaft ist. Der Relativismus, die Leugnung der Wahrheitsfähigkeit des Menschen gebiert geradezu das Phänomen der Emotionalisierung des öffentlichen Diskurses, wie wir ihn derzeit erleben.

Wenn die Objektivität von Wahrheit keine Rolle mehr spielt, dann kann es nur noch um Gewinnen und Verlieren und persönliche Auseinandersetzungen gehen. Es wird moralisiert und echte Toleranz bleibt auf der Strecke. „Nur dann besteht wirkliche und wahrhafte Toleranz“, so Maritain, „wenn ein Mensch von einer Wahrheit oder von dem, was er dafürhält, fest und absolut überzeugt ist und zugleich den Leugnern dieser Wahrheit zugesteht, ihm zu widersprechen und ihre eigene Meinung zu sagen; nicht deshalb, weil sie nichts mit der Wahrheit zu tun haben, sondern weil sie die Wahrheit auf ihre Weise suchen. Denn ein solcher Mensch achtet in ihnen die menschliche Natur und Würde …“. Nicht der Verzicht auf Wahrheit fördert Toleranz und Menschenrechte, sondern Menschen, die für die Wahrheit mit Vernunftgründen und in Liebe eintreten.

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